Das Vater unser beten, Meditation und Selbsterkenntnis – wie passt das?
Nun – in der hier üblichen Version passt das gar nicht zueinander.
Denn im Beten des klassischen Vater-unser legt jegliche Verantwortung für unser Leben in die Hände eines christlichen Gottes namens Jahwe. Das hat so gar nichts mehr mit Meditation zu tun, denn im meditieren stellen wir uns der eigenen Verantwortung.
Und ich glaube tatsächlich nicht, dass das mal so gedacht war von dem, der uns aus erster Hand von diesem Gott der Christen erzählt haben soll. Lassen wir mal außen vor, ob Jesus von Nazareth wirklich DER Sohn DIESES Gottes war.
Meiner Ansicht nach sind wir ja eh alle göttlichen Ursprungs – keiner mehr und keiner weniger. Auch, wenn man es im Alltag manchmal schwer glauben mag.
Es gibt tatsächlich viele Anzeichen, dass die Lehre von Jesus von einer viel älteren spirituellen Richtung geprägt war: dem Buddhismus.
Viele Gleichnisse und Inhalte stammen aus alten buddhistischen Lehren – zumindest wenn man die originalen Texte liest. Denn Jesus sprach ja nicht lateinisch, sondern aramäisch.
Einige wenige dieser Texte sind uns im original erhalten und wenn wir diese offen übersetzen, dann zeigt sich in vollem Ausmaß die tiefe, buddhistische Weisheit der Meditation dahinter.
Eine offene Übersetzung führt zur Meditation
Was meine ich mich „offen” übersetzen? Ich meine damit, dass die meisten Übersetzungen einer gewissen Richtung folgen. Sie sind voreingenommen und zielen auf die Überzeugungen und Ziele der römisch-katholischen Kirche.
Nehmen wir doch mal eine sehr textnahe, wörtliche Übersetzung des Vaterunsers direkt aus dem aramäischen ins Deutsche hinein. Das Vaterunser ist ja der Kern des christlichen Glaubens und sollte eigentlich die Basis für Christ und Christin-sein legen.
Wie müsste ich eigentlich als Christ denken, handeln und leben, wenn ich das authentische Vater-unser wörtlich nehmen würde?
Dann schauen wir doch mal, wie es lautet, wenn wir es ohne die Manipulation einer Ideologie übersetzen:
Oh Du, atmendes Leben in allem,
Ursprung des schimmernden Klanges.Es scheint in uns und um uns,
selbst die Dunkelheit leuchtet, wenn wir uns erinnern.Einen heiligen Atemzug atme ich,
bei dem ich mich lebendig fühle -und der Klang in uns erklingt und reinigt.
Einen heiligen Atemzug zu atmen,
bei dem ich das Leben und die Liebe fühleMöge der brennende Wunsch meines Herzens Himmel und Erde vereinen
durch meine Harmonie.Täglich brauche ich Brot und Einsicht:
das Notwendige für den Ruf des WachstumsZu lösen die Stränge der Irrtümer, die uns binden,
wie wir loslassen, was uns bindet an die Irrtümer anderer.Oberflächliche Dinge sollen mich nicht irreführen,
sondern befreien von dem, was uns zurückhält.Dem Leben entspringt der all wirksame Wille,
die lebendige Kraft zu handeln,das Lied, das alles verschönert
und sich von Zeitalter zu Zeitalter erneuert.Wahrhaftige Lebenskraft diesen Aussagen!
Mögen sie der Boden sein, aus dem alle meine Handlungen erwachsen.
Besiegelt in Liebe, Vertrauen und Weisheit.
So sei es.
Die pure Kraft im Meditieren
Was für eine Kraft in diesen Worten. Das ist pure Magie und das kann man tief drinnen fühlen. Wenn ich mir vorstelle, dass da vor 2000 Jahren ein Typ aus Nazareth mit seinen Schülern um einen Tisch saß und solche Worte sprach… Also ich bekomme da Gänsehaut.
Mich berührt es und mich erinnert es an das, was wesentlich ist.
Dann lass uns mal diese Kraftsätze in Ruhe anschauen. Denn als genau das waren Gebete ursprünglich mal gemeint: Kraftsätze für die Verbindung mit etwas Größerem. Eine Öffnung unseres kleinen Verstandes in eine höhere Sphäre hinein. Und dies ist dann eben auch die Basis der Meditation.
Oh Du, atmendes Leben in allem,
Ursprung des schimmernden Klanges.
Wie wunderbar! So wenige Worte, die so viel beinhalten! Wie könnte ich nach dieser kleinen Einleitung noch die Natur zerstören oder Tiere ausbeuten? Die göttliche Kraft in allem – Mensch, Tier, Pflanze und jeder Stein. Selbst in die Bibel hat es diese Aussage geschafft:
„Was Du dem geringsten meiner Geschöpfe antust, das tust Du mir an – so spricht der Herr.”
Und
„Gleich, welchen Stein Du umdrehst – Du findest mich darunter.”
Dieser Satz heißt im Original übrigens eher: „Egal welchen Stein Du aufhebst – Du findest mich DARIN”.
Im Buddhismus ist die Liebe zur Natur und der Respekt vor allen Lebewesen fest verankert – unter anderem in der vegetarischen oder – je nach Interpretation – veganen Ernährung. Beim Meditieren offenbart sich das oft für den Meditierenden.
Es scheint in uns und um uns,
selbst die Dunkelheit leuchtet, wenn wir uns erinnern.
Was für ein Kraftsatz! Und welch eine Erkenntnis, die wir daraus erlangen können. Alles Licht, all die Liebe entsteht in uns und es braucht dafür gar nichts Besonderes. Einzig und alleine ein sich darin erinnern reicht.
Alles im Leben folgt der inneren Ausrichtung. Umgekehrt kannst Du an den äußeren Umständen wunderbar ablesen, wie Dein innerer Zustand ist.
In der Verbindung mit der Liebe werden wir zur Liebe. Im erinnern ans Licht, sind wir das Licht.
Einen heiligen Atemzug atme ich,
bei dem ich mich lebendig fühle -
Immer wieder richtet sich die tiefe Spiritualität auf die Kraft des Atems. In jedem Atemzug finden wir die Verbindung zum klaren, unverstellten Leben. Wir sehen die Dinge, wie sie wirklich sind und nicht, wie wir sie interpretieren.
In der Meditation geht es immer wieder darum, sich auf den Atem zu konzentrieren. Meditieren ist der Anker ins Leben und ins liebevolle Sein.
und der Klang in uns erklingt und reinigt.
Neben den Atem sind Mantras eine kraftvolle Möglichkeit zur Reinigung. Der Klang bestimmter Frequenzen und Artikulationen bewirkt Harmonisierung auf basaler Ebene.
Reinigung ist dabei nicht zu verstehen, dass da was dreckig war. Es ist eher im Sinne zu verstehen, dass wir uns wieder in den Gleichklang der Liebe und Harmonie schwingen lassen.
Möge der brennende Wunsch meines Herzens Himmel und Erde vereinen
durch meine Harmonie.
Ja, nur Menschen, die in ihrem Herzen diese brennende Sehnsucht fühlen nach etwas Größerem als nur ihrem alltäglichen Überlebenskampf werden sich diesem unbequemen Weg stellen. Und das heißt eben nicht, dass wir damit aufhören Menschen zu sein. Wir tragen in uns das Potenzial für göttliche Liebe und irdischer Angst. Und nur im Vereinen dieser beiden Gegensätze finden wir dauerhafte und erfüllende Harmonie.
„Den Frieden, der nicht von dieser Welt ist” – wie auch aus der Bibel überliefert ist.
Und für die Harmonie in der Welt bin ICH höchstpersönlich verantwortlich. Gemeinsam mit ein paar Milliarden anderen Menschen. Das schon. Und dennoch ICH höchstpersönlich.
Täglich brauche ich Brot und Einsicht:
das Notwendige für den Ruf des Wachstums
Nun, dies ist schon eine erste wichtige Anleitung, die den vorherigen Satz nochmals bekräftigt und konkretisiert.
Wir Menschen brauchen beides: Brot und Einsicht. Brot meint dabei natürlich nicht nur Brot, sondern alles, was wir halt so brauchen in dieser materiellen Welt: Nahrung, Wasser, Schutz, Geborgenheit – nennen wir es mal: materielle Grundversorgung.
Und Einsicht meint auch nicht nur irgendein Wissen im Hirn. Sondern alles, was wir heute Spiritualität nennen: Meditation, authentisches Wissen, Selbsterkenntnis…
Und jetzt kommt der Clou: genauso wie das „tägliche Brot”, brauchen wir auch die tägliche Spiritualität. Und warum das alles? Na – eben: für das Wachstum. Nur wer in sich diesen Ruf des Wachstums in sich spürt, wird einen solchen Weg auf sich nehmen wollen.
Zu lösen die Stränge der Irrtümer, die uns binden,
wie wir loslassen, was uns bindet an die Irrtümer anderer.
Hier finden wir eine wunderbare Beschreibung dessen, was einerseits unser Hindernis ist und gleichzeitig auch schon eine präzise Anleitung, wie wir es überwinden können.
Wir sehen die Welt nicht in perfekter Klarheit, sondern gefärbt durch unsere Brille unsere Ängste und Konditionierungen.
Ego nennt man es heutzutage auch kurz. Und „wir” heißt: ich und die anderen Menschen.
Dies im alltäglichen Leben zu erkennen und loszulassen ist eine wahrhaftige Kriegeraufgabe. Unsere eigene Verblendung zu erkennen und die der anderen und beides loszulassen im Sinne der zutiefst empfundenen Vergebung… welch eine Kraft darin wohnt…
Oberflächliche Dinge sollen mich nicht irreführen,
sondern befreien von dem, was uns zurückhält.
Dieser Satz ist aktueller denn je. So viel Potenzial für Ablenkung und Verwirrung in der heutigen Welt. Selbst die Spiritualität, die ja eigentlich ein Gegengewicht dazu bilden sollte, ist Teil der Ablenkungs-Maschinerie geworden.
Nun, es bringt nun einerseits sehr wenig, sich dem einfach hinzugeben. Zum Beispiel Netflix zu suchten, wenn man meditieren sollte. Oder mit dem Handy daddeln. Aber der Versuch, all das dann völlig von sich fernzuhalten ist auch sinnlos. Es geht um den richtigen Umgang mit alldem.
Eben um die Befreiung von dem, was uns zurückhält. Und das gelingt nicht durch Disziplin, sondern einzig durch Erkenntnis und Transformation.
Dem Leben entspringt der allwirksame Wille,
die lebendige Kraft zu handeln,
Und immer wieder der Demut. Das sich besinnen darauf, dass wir nur kleine Fünkchen in der riesigen Feuersbrunst des Lebens sind. Stete Veränderung und Gesetzmäßigkeiten, die größer sind, als unsere begrenzte Einsicht.
In dieser Demut findet sich dann auch eine neue Kraft und Inspiration, um im Leben voller Liebe und Freude zu wirken.
Das Lied, das alles verschönert.
Das soll das Ziel sein. Keine Disziplin, keine Anstrengung. Ein rechtes Bemühen, um im Leben täglich mehr Schönheit zu finden und gleichzeitig auch die Ursache dafür sein, dass dem Leben mehr Schönheit zuteil wird. Jeden Tag ein klein wenig…
und sich von Zeitalter zu Zeitalter erneuert.
Welch eine Weisheit, denn an dieser Stelle wurde voller Voraussicht eine dynamische Komponente hinzugefügt. Die Grundaussagen in diesem Gebet sind zeitlos. Aber: die Ausformung unterliegt wie allem im Leben einer steten Veränderung.
Wir leben heute in einer anderen Welt, als vor 2000 Jahren. Und aus dem heraus braucht heute einer moderneren Herangehensweise als früher.
Wahrhaftige Lebenskraft diesen Aussagen!
Und weil es so wichtig ist – gleich nochmal. Es geht um Wahrhaftigkeit, im Sinne von: fühlbar in mir selbst erlebbar. Spiritualität ist nur authentisch, wenn sie in mir schwingt und resoniert. Es ist ohne jeden Sinn, wenn wir die Spiritualität eines anderen Menschen lesen und blind befolgen.
Alles, was wir hören, sehen oder lesen sollten Anregungen sein, um eine eigene Spiritualität zu erfahren. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Mögen sie der Boden sein, aus dem alle meine Handlungen erwachsen.
Und das ist die Krux wahrer Selbsterkenntnis. Wir werden nie eine grundlegende Transformation erfahren, wenn wir sie nur dann anwenden, wenn es uns grade passt. Nur wenn unsere Handlungen wirklich aus diesem Boden erwachsen und wir uns von diesem Boden voll und ganz durchdringen lassen, wird das Wunder geschehen.
Nur, wenn wir all unser denken, fühlen und handeln ganz im Dienst von Wachstum und Liebe stellen, werden wir in eine neue Welt eintauchen können.
Besiegelt in Liebe, Vertrauen und Weisheit.
So sei es.
Und dieser abschließende Satz verstärkt den Satz zuvor. Es ist ein Schwur an mich selbst und möglicherweise auch mit anderen Wesen, die diesen Weg mit mir gehen wollen.
Liebe, Vertrauen und Weisheit
In diesen drei Worten steckt die Kurzbeschreibung für den Weg:
Liebe, Vertrauen und Weisheit.
Vielleicht magst Du dieses Gebet als einen täglichen Begleiter in Dein Leben einladen. Wenn Du das tust, dann solltest Du jedoch darauf achten, dass Du es nicht irgendwann einfach nur noch runter leierst.
Nimm es ein jedes Mal ernst und reflektiere, inwieweit Dein heutiger Tag sich daran ausgerichtet hat. Du findest das Gebet als MP3 in unseren Meditationen und kannst es Dir gerne jeden Tag anhören, damit meditieren und Dich davon berühren lassen.
Ich wünsche Dir ein wundervolles Leben, angefüllt mit unendlichen Wachstumsimpulsen. Nimm jede Herausforderung nicht als etwas, das gegen Dich gerichtet ist. Sondern als das, was es ist:
Ein Impuls, der Dir hilft auf Deinem Weg des Wachstums und der Reifung.
Alles Liebe,
Alle Achtung, nicht schlecht Herr Specht.
Freut mich, dass es Dir gefällt
Starker Text. Ich bin praktizierender Christ und war zuerst etwas überrascht davon und sogar auch verärgert. Aber dann habe ich die eigentliche Botschaft dahinter verstanden und verstanden, dass das, was Du schreibst eben gar nicht „gotteslästerlich” ist, sondern sehr respektvoll. Auch mir geht es um die reine Energie hinter dem Christentum und nicht um das, was die Kirche daraus gemacht hat und noch macht.
Ich wusste nicht, dass es eine alternative Übersetzung für das Vaterunser gibt und bin sehr glücklich sie hier entdeckt zu haben. Eine wahre Bereicherung für jeden wirklich gläubigen Christen…
Lieber Klaus,
danke für diese Rückmeldung und ich freue mich, dass Dich das, was ich mitteilen wollte, erreichen konnte.
Man glaubt nicht nur – man hat eine gute Idee davon.