Auszug aus dem Buch von Dirk Liesenfeld: „Reise zu Deinen Wurzeln – das Praxisbuch des lebendigen Schamanismus”
Eigentlich alle ursprünglichen Kulturen haben vergleichbare „Werkzeuge“, um im schamanischen Kontext rituelle Räume zu eröffnen. Am bekanntesten ist hierbei vermutlich die indianische Schwitzhütte, in welcher die Teilnehmer gemeinsam mit einem Schamanen oder einer Schamanin sich in eine Art kleines und flaches Tipi zurückziehen und durch glühende Steine in der Mitte große Hitze erzeugt wird. Im Gegensatz zur indianischen Schwitzhütte, findet die keltisch-schamanische Erdhütte jedoch IN der Erde statt. In einer Höhle, ganz im Schoße von Mutter Erde, finden wir tiefste Verbindung mit einer Kraftquelle, die viele Menschen im Alltag verloren haben.
Es gibt in Europa nur sehr wenige Erdhütten, da es sehr aufwändig ist eine solche zu bauen. Daher war auch mein erster Impuls, als wir unseren Kraftplatz im Wald errichtet haben, im energetischen Zentrum des Platzes eine Erdhütte zu bauen. Im Kapitel über Krafttiere habe ich daraus schon einiges erzählt und ich möchte in diesem Kapitel noch tiefer auf die Erdhüttenzeremonien eingehen, weil sie nach meiner Meinung einfach eine wesentliche Säule der schamanischen Arbeit ist. Wenn ich in fünf Worten beschreiben sollte, was die Erdhütte bewirkt, dann würde ich sagen:
Dinge werden wesentlich und wahr.
Perfekt. Genau fünf Worte. Aber was bedeuten diese eigentlich? Heißt das, dass Menschen außerhalb der Schwitzhütte zum Beispiel nicht die Wahrheit sagen? Ja, das soll es tatsächlich heißen. Also nicht, dass Menschen bewusst und vorsätzlich lügen würden. Solche Menschen gibt es natürlich auch, aber das meine ich gar nicht. Sondern, dass es einfach „heikle“ Themen gibt, die gerne vermieden werden. Dabei ist es zum einen so, dass so Manches dermaßen stark abgespalten wurde und so sehr tief im Innersten verbuddelt wurde, dass es gar nicht mehr direkt wahrzunehmen ist. Es ist dennoch da und wirkt unablässig ins tägliche Leben hinein, doch kann die eigentliche Ursache nicht gespürt werden. In manchen Fällen kann sie „intellektuell vermutet werden“, doch das macht keinen spürbaren Unterschied.
Eine weitere Ausprägung dieser „Unehrlichkeit“ ist auf der Ebene, dass bestimmte Wahrheiten zwar deutlich fühlbar sind, aber einfach verleugnet werden, da die Konsequenzen daraus zu viel Angst einflößen.
In einem so intensiven Raum wie der Erdhütte wird vielen Menschen auf einmal fühlbar und erlebbar deutlich, welchen Preis sie für diese angstinduzierten Kompromisse zahlen. Sie spüren auf einmal mit jeder Faser, was sie sich (und auch anderen) damit antun und dies führt dann oft dazu, dass ein Schlussstrich gezogen wird. Es ist wie ein innerliches mit der Faust auf den Tisch hauen und sich selbst zurufen: „Schluss! Bis hierher und nicht weiter!“
Klar, das muss dann natürlich noch im realen Leben umgesetzt werden und das gelingt nicht immer im ersten Anlauf. Aber sehr oft ist damit der Samen gelegt und früher oder später wird dieser erblühen – es gibt da oft kein Zurück mehr, denn das, was wirklich gespürt worden ist, wurde dadurch auch zur unumstößlichen inneren Wahrheit und Gewissheit.
Es gibt aber auch noch einen weiteren Aspekt der Erdhütte, nämlich den, der über diese Welt hinausragt. In den ersten beiden Beispielen ging es ja eher um – naja, ich nenne es jetzt mal „psychologische“ Themen. Also eben Themen, die in der Kindheit entstanden sind und bis heute nachwirken. Der spirituelle Aspekt der Erdhütte ist aber auch der Teil, wo die Verbindung zur Anderswelt hergestellt wird und dadurch eine ganz andere Tiefe von Schamanismus berührt werden kann.
Tatsächlich ist es so, dass es nur sehr schwer möglich ist, die Erfahrung in einer Erdhütte in Worte zu fassen und stattdessen möchte ich noch kurz einen möglichen Ablauf einer Schwitzhüttenzeremonie beschreiben. Müsste ich dies in einem Satz beschreiben, so würde dieser lauten:
In der Erdhütte durchdringen wir bei mittlerer bis starker Hitze mit viel Zeit und Geduld unsere Panzer und Schutzschichten. Wir sind füreinander da und es bildet sich ganz von selbst ein schamanischer Zirkel.
Hoppla, das waren jetzt zwei Sätze. Aber die beschreiben eigentlich ziemlich gut, was in einer Erdhütte geschieht. Doch auch hier ist wieder – wie schon früher beschrieben – Set und Setting von hoher Bedeutung und das heißt in diesem Fall, dass wir eine gute Vorbereitung brauchen, damit die Hütte dann auch in Kraft erblühen kann. Es heißt aber auch, dass es eine gute Nachbereitung und Integrationsphase braucht, damit all diese Erfahrungen auch gut wurzeln und wirken können.
In der Praxis beginnt die Vorbereitung der Erdhütte schon am Morgen der eigentlichen Hütte oder sogar am Vortag. Gerade bei mehrtägigen Workshops baut sich über die Tage ein Spannungsbogen auf, in dessen Mitte das Erdhüttenritual steht. Dazu kann man Verbindung mit dem Wald und mit sich selbst aufnehmen und schon beginnen zu lauschen, was sich zeigen möchte. Dies ist durchaus vergleichbar mit dem Prozess, den ich im Kapitel über „Trance“ beschrieben habe. Doch hier ist auch noch der eigene Platz in der Gruppe und der Kontakt mit den anderen Menschen von großer Bedeutung. Nur gemeinsam kann diese Magie wirken und es braucht auch wirklich jeden einzelnen, damit sich der Kreis schließt.
Wir beginnen das Ritual oft zum Sonnenuntergang und schließen mit dem Licht der untergehenden Sonne die Türe. Die Reise dauert dann meist zwischen ein und sechs Stunden, bei längeren Ritualen machen wir aber zwischendurch meistens Unterbrechungen, bei denen wir die Hütte verlassen und die Stille des Waldes genießen, beziehungsweise auch etwas Wasser zu uns nehmen. Das selbst Ritual kann verschiedenste Ausprägungen haben. Manchmal sind die Zeremonien ruhig und führen in eine sehr tiefe Stille hinein. Andere Sitzungen können durchaus auch intensiver und mit mehr Impulsen und Selbstausdruck verlaufen. Auch die Integrationsphase danach hat keinen festgelegten Ablauf, sondern geht mit dem, was sich in der Zeremonie gezeigt hat und auch noch weiterhin im Verlauf der Integration zeigt.
Wie schon früher erwähnt, kann die Erdhütte mit vielen anderen schamanischen Tools kombiniert werden. So ist es beispielsweise sehr steigernd in der Hütte zu Trommeln oder zu Singen. Auch das holotrope Atmen und schwache Substanzen (wie beispielsweise der Kakao) sind sehr gute Ergänzungen. Für mich ist die Erdhütte einer der intensivsten schamanischen Räume und sie liegt mir daher sehr am Herzen.