Allgemeines

Ärger

Was ist Ärger und was bewirkt er im Leben?

Ich bekam ges­tern eine Email. Mit fol­gen­dem Inhalt:
„Sor­ry Dirk, aber dein Spruch zum Nach­füh­len heu­te macht mich ernst­haft böse. Es ist ein selbst­ver­leug­ne­ri­scher dum­mer unlo­gi­scher Spruch, der Beschei­den­heit gebie­tet. Geh doch bit­te mal selbst zum See­len­klemp­ner und ver­scho­ne die Welt mit dei­nem – in mei­nen Augen – geis­ti­gen Dünnschiss.”

Wow. Da ist jemand ärger­lich auf mich. Und zwar sehr.
Ich habe dann mal nach­ge­se­hen, wel­cher „Spruch zum Nach­füh­len” an die­sem Tag über­haupt auf der Web­site stand. Es war folgender:

„Men­schen­le­ben sind kost­bar – das der ande­ren noch mehr als unser eigenes.”

Ein paar harm­lo­se Wor­te – weder poli­ti­scher Natur, noch ras­sis­tisch und auch nicht Frau­en­dis­kri­mi­nie­rend. (Es war näm­lich eine Frau, die mir die Email geschrie­ben hat.)

Ich konn­te nicht ver­ste­hen, war­um die­se Frau so ärger­lich wur­de. Ich konn­te es nicht ver­ste­hen, bis zu dem Punkt, an dem ich mich selbst dabei beob­ach­tet habe, dass ich am Com­pu­ter sit­ze und ihr eine „ange­mes­se­ne” Email zurück schrei­ben woll­te. Etwas in der Art von „sel­ber See­len­klemp­ner” und so wei­ter. Da habe ich es dann verstanden.
Ich war näm­lich selbst ärger­lich. Ich war ärger­lich über ein paar harm­lo­se Wor­te, die ver­schlüs­selt als Bits und Bytes als Email bei mir ankamen.

Ich habe dann davon erst ein­mal Abstand genom­men, aus mei­nem Ärger her­aus der Frau einen vor den Latz zu knal­len. Ich habe eine Wei­le gewar­tet und nach weni­gen Momen­ten war mein Ärger auch schon abge­klun­gen und mach­te einem ganz ande­ren Gefühl Platz: Dem Mitgefühl.
https://www.youtube.com/watch?v=CNeewn1qQg4
Men­schen sind stän­dig ärger­lich mit­ein­an­der. Da reicht oft schon – wie im obi­gen Bei­spiel – der kleins­te Aus­lö­ser. Meist ver­steht das Gegen­über dann über­haupt nicht den Grund für den Ärger und wird dann selbst ärger­lich. Das brei­tet sich dann immer wei­ter aus, wie ein Buschfeuer.
Und das kann man sehr gut auf der Welt und im eige­nen Leben beobachten.
„War­um fährt der Idi­ot so dicht auf?”
„Muss die­ser Depp mich denn jetzt anrempeln?”
„Boah, die Tus­si nervt – kann die denn nicht woan­ders rauchen?”

Die Welt ist voll davon – es scheint, als wür­den sich die Men­schen über­wie­gend auf die Ner­ven gehen. Und dabei gibt es nichts über­flüs­si­ge­res als den Ärger. Stel­le Dir mal vor, dass Du Piz­za bestellst und der Kell­ner lie­fert Dir – nach 90 Minu­ten War­te­zeit – Hähn­chen. Ja, das ist blöd, vor allem, wenn Du viel­leicht sogar Vege­ta­ri­er bist. Aber, mal ganz genau hin­ge­se­hen. Wenn Du jetzt ärger­lich wirst, laut pol­ternd den Laden ver­lässt oder her­um­ze­terst und sogar den Kell­ner beschimpfst… wird dadurch irgend­et­was bes­ser? Ver­wan­delt sich dadurch Dein Hähn­chen in eine Piz­za? Wird dadurch Dein Hun­ger weni­ger? Mehrt das die Lie­be in der Welt? Nein, im Gegen­teil. Es macht alles noch schlim­mer. Dein rest­li­cher Tag ist ver­saut, eben­so der des Kell­ners und viel­leicht sogar noch der von eini­gen wei­te­ren Gäs­te im Restaurant.

Was also tun? Ja und Amen sagen und den gebra­te­nen Hüh­ner-Kada­ver mampfen?
Nein. Natür­lich nicht. Natür­lich wer­de ich es dem Kell­ner sagen, aber eben jen­seits von Ärger.
„Ach Mensch, ich habe jetzt so lan­ge gewar­tet und jetzt brin­gen Sie mir die fal­sche Bestel­lung. Ist wohl gra­de viel los in der Küche? Kön­nen Sie mir inner­halb der nächs­ten 10 Minu­ten eine Piz­za brin­gen, ansons­ten gehe ich lie­ber rüber zur Imbiss­bu­de und hole mir ein paar Pom­mes – ich habe näm­lich echt Hunger.”
Ganz ohne Ärger, ganz ohne emo­tio­na­le Erpres­sung. Ein­fach nur eine Mit­tei­lung mei­ner Bedürfnisse.

Und das ist die Kunst.
Ärger ver­schwin­det dadurch, dass man ein paar Momen­te dem inne­ren Druck stand­hält. Nicht direkt raus­platzt damit. Das berühm­te „Drei­mal tief durch­at­men”. Und dann schaut, was mich EIGENTLICH so wütend macht. Im Restau­rant-Bei­spiel ist es ja der Hun­ger in Ver­bin­dung damit, dass ich mich über­gan­gen füh­le. Wenn das in mir Mord­ge­lüs­te aus­löst, dann geht die gan­ze Sache weit über den unacht­sa­men Kell­ner hin­aus. Dann steckt da was Tie­fe­res hin­ter. Der Kell­ner ist dann maxi­mal noch der Aus­lö­ser, aber kei­nes­falls die Ursache.

Ich hat­te mal mit dem Freund einer Freun­din ein Gespräch über Sui­zid und im Ver­lauf des Gesprä­ches sag­te ich: „Naja, und wenn ein Mensch sich umbringt, dann ist es immer ein Ver­lust. Aber ich kann das den­noch respek­tie­ren als die letz­te Ent­schei­dung die­ses Menschen.”
Da wur­de der Freund der Freun­din rich­tig böse und hat mich aus sei­ner Woh­nung gewor­fen. Erst spä­ter habe ich erfah­ren, dass er selbst meh­re­re Sui­zid­ver­su­che hin­ter sich hat­te und die des­we­gen fehl­ge­schla­gen waren, weil er eigent­lich wahn­sin­ni­ge Angst vor dem Tod hat. Nicht mei­ne Aus­sa­ge hat ihn also erzürnt, son­dern das, wor­an sie ihn erin­nert hat.

Ich wünsch­te die Men­schen wür­den lie­be­vol­ler mit­ein­an­der umge­hen, wür­den nicht stän­dig vol­ler Ärger auf­ein­an­der ein­prü­geln. Die Welt wäre für alle Men­schen ein bes­se­rer Ort. Aber das nützt nichts, wenn ich mir das wün­sche. Es nützt auch nichts, wenn ich ver­su­che ande­re dies­be­züg­lich zu missionieren.
Aber ich kann ler­nen mit mei­nem Ärger umzu­ge­hen, so dass er sich in Mit­ge­fühl und Lie­be ver­wan­delt. Und damit bin ich dann ein Bei­trag für die Lie­be in der Welt und – qua­si als Bonus – wer­de ich erfah­ren wie dadurch auch mein eige­nes Leben reich­hal­ti­ger und far­ben­präch­ti­ger wird.

Und DAS begrei­fe ich als eine der wich­tigs­ten Aus­sa­gen von Tan­tra und Selbsterkenntnis.
Und so lan­den wir wie­der dort, wo wir begon­nen haben.

„Men­schen­le­ben sind kost­bar – das der ande­ren noch mehr als unser eigenes.”

Ver­stehst Du, wie ich das meine?
Am Ende des Lebens – wenn der Sen­sen­mann schon fröh­lich lächelnd vor uns steht – wird ein jeder begrei­fen, dass nicht das eige­ne Leben das wich­ti­ge war. Son­dern das, was wir damit ange­fan­gen haben. Und das ein­zi­ge, was wirk­lich von Bedeu­tung dabei ist, ist das, was wir im Leben ande­rer Wesen bewirkt haben.

Und wofür nutzt Du der­zeit Dei­ne Lebenszeit?

Alles Lie­be,
Dirk Liesenfeld.

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